10

 

Dylan saß am Kopfende des Himmelbettes und starrte konzentriert auf das erleuchtete Display ihres Handys.

Netz suchen ... Netz suchen ...

„Komm schon“, flüsterte sie atemlos, als sich die Nachricht mit quälender Langsamkeit wiederholte. „Komm schon, find's endlich, verdammt noch mal!“

Netz suchen ...

Kein Netz gefunden.

„Scheiße.“

Sie hatte ihren Entführer angelogen. Natürlich hatte sie ein Handy.

Das extrem flache Gerät war die ganze Zeit über in einer der Seitentaschen ihrer Cargojeans gewesen. Nicht, dass ihr das jetzt sonderlich viel nützte.

Dass Signal ihres teuren internationalen Netzbetreibers war im besten Fall schwach. Dylan hatte es in der letzten Stunde mehrmals versucht, mit demselben frustrierenden Ergebnis. Alles, was sie damit erreichte, es wieder und wieder zu probieren, war, kostbare Akkuminuten zu verschwenden. Das Ladegerät und den europäischen Adapterstecker hatte sie schon nach wenigen Tagen auf der Reise verloren; jetzt zeigte das Display nur noch zwei Balken Ladung an, und ihre gegenwärtige Tortur würde wohl noch lange nicht vorbei sein.

Wie um diese Tatsache zu betonen, öffnete sich jetzt mit einem metallischen Klicken das Türschloss, und jemand drehte außen den Kristallknauf.

Hastig schaltete Dylan das Handy aus und stopfte es unter das Kopfkissen, das hinter ihr lag. Gerade zog sie ihre Hand darunter hervor, als die Tür ihres Luxusgefängnisses aufschwang.

Rio kam herein mit einem hölzernen Essenstablett. Der Duft nach frischem Sauerteigbrot, Knoblauch und gebratenem Fleisch zog vor ihm her. Dylan lief das Wasser im Mund zusammen, als sie einen Blick auf ein riesiges gegrilltes Sandwich erhaschte, üppig belegt mit Hühnerbruststreifen, marinierter roter Paprika und Zwiebeln, Käse und knackigem grünem Salat.

Oh Gott, sah das wunderbar aus.

„Hier ist Ihr Mittagessen, wie versprochen.“

Sie zwang sich zu einem gleichgültigen Schulterzucken. „Ich hab's Ihnen doch gesagt. Ich werde nichts essen, was Sie mir geben.“

„Wie Sie wollen.“

Er stellte das Tablett neben ihr auf dem Bett ab. Dylan versuchte, das verlockende Sandwich und die Schüssel voll reifer Erdbeeren und Pfirsichschnitze, die danebenstand, nicht anzusehen. Auch eine Flasche Mineralwasser stand auf dem Tablett und ein niedriges Cocktailglas mit einer großzügig bemessenen Portion einer blassen bernsteinfarbenen Flüssigkeit, die süß und rauchig roch. Sie tippte auf teuren schottischen Whisky. Die Sorte, die ihr Vater sich Nacht für Nacht hinter die Binde gekippt hatte, obwohl sie es sich nicht leisten konnten.

„Soll ich mir damit die Betäubungsmittel runterspülen, die Sie ins Essen getan haben? Oder sind die K.-o.-Tropfen im Schnaps?“

„Ich habe nicht die Absicht, Sie unter Drogen zu setzen, Dylan.“ Er klang so ehrlich, fast glaubte sie ihm. „Der Whisky ist zu Ihrer Entspannung da, wenn Sie ihn brauchen. Ich werde Ihnen nichts aufzwingen.“

„Ach was“, meinte sie, und sie bemerkte, dass sich sein Verhalten ihr gegenüber leicht verändert hatte. Er war immer noch riesig und sah gefährlich aus, aber als er sie jetzt anstarrte, umgab ihn eine nüchterne, fast schon schmerzliche Resigniertheit. Als hätte er eine unangenehme Aufgabe, die er erledigen musste.

„Wenn Sie nicht hier sind, um mir etwas aufzuzwingen, warum schauen Sie dann so, als servierten Sie mir gerade meine Henkersmahlzeit?“

„Ich bin gekommen, um mit Ihnen zu reden. Das ist alles. Es gibt da einige Dinge, die ich Ihnen erklären muss. Dinge, die Sie wissen müssen.“

Nun, allmählich war es auch an der Zeit, dass sie ein paar Antworten bekam. „Okay, fangen Sie doch damit an, wann Sie mich hier rauslassen.“

„Bald“, sagte er. „Morgen Abend fliegen wir in die Staaten zurück.“

„Sie nehmen mich mit zurück nach Amerika?“ Sie wusste, dass sie zu hoffnungsvoll klang, schließlich hatte er sich selbst in das Szenario eingeschlossen. „Werden Sie mich morgen frei lassen? Lassen Sie mich nach Hause gehen?“

Langsam ging er um das Fußende des Bettes herum, hinüber zur Wand mit den abgedunkelten Fenstern. Er lehnte eine Schulter an die Wand und verschränkte seine muskulösen, tätowierten Arme vor der Brust. Eine lange Minute sagte er gar nichts. Er stand einfach nur da, bis Dylan ihn am liebsten angeschrien hätte.

„Wissen Sie, ich hätte mich heute Vormittag mit jemandem in Prag treffen sollen - mit jemandem, der meinen Chef kennt und ihn vermutlich schon angerufen hat, um zu fragen, wo ich stecke. Ich bin auf der Passagierliste eines Fluges nach New York heute Nachmittag.

Es gibt Leute, die zu Hause auf mich warten. Sie können mich nicht einfach von der Straße pflücken und denken, dass niemandem auffällt, dass ich fort bin ...“

„Jetzt erwartet Sie niemand mehr.“

Dylans Herz begann in ihrer Brust zu hämmern, als spürte ihr Körper, dass etwas Großes auf sie zugerast kam, noch bevor ihr Verstand es erfasst hatte. „Was ... was haben Sie da eben gesagt?“

„Ihre Familie, Freunde und Ihr Arbeitgeber wurden alle informiert, dass Sie gesund und munter sind, aber damit rechnen, eine Zeit lang nicht erreichbar zu sein.“ Als sie ihn verständnislos ansah, sagte er: „Sie haben alle vor wenigen Minuten eine E-Mail von Ihnen erhalten, in der Sie sie wissen lassen, dass Sie sich noch ein paar Tage länger freinehmen, um im Alleingang noch etwas mehr von Europa zu sehen.“

Wut brandete in ihr auf, und sie war stärker als die Vorsicht, die sie noch vor einer Sekunde empfunden hatte. „Sie haben meinem Chef geschrieben? Meiner Mutter?“ Ihr Job war gerade ihre kleinste Sorge, aber es war die Vorstellung, dass dieser Mann auch nur in die Nähe ihrer Mom kam, die Dylan zum Explodieren brachte. Sie schwang die Beine vom Bett und stand auf, sie zitterte beinahe vor Zorn. „Du Mistkerl! Du verdammter Hurensohn!“

Er wich zurück, entzog sich ihr, als sie ihn angriff. „Es war notwendig, Dylan. Wie Sie schon sagten, hätte es Fragen gegeben.

Man hätte sich Sorgen um Sie gemacht.“

„Bleiben Sie verdammt noch mal von meiner Familie weg - hören Sie mich? Es ist mir egal, was Sie mit mir anstellen, aber lassen Sie meine Familie aus dem Spiel!“

Er blieb ruhig, besonnen. Es war zum Verrücktwerden.

„Ihrer Familie droht keinerlei Gefahr, Dylan. Und Ihnen auch nicht.

Morgen Abend werde ich Sie in die Staaten zurückbringen, an einen geheimen Ort der Angehörigen meiner Spezies. Ich bin sicher, sobald Sie dort sind, werden Sie eine Menge von dem, was ich Ihnen jetzt erzählen werde, besser verstehen.“

Dylan starrte ihn an, ihr Verstand stolperte über seine eigenartige Wortwahl: Angehörige meiner Spezies.

„Was zur Hölle wird hier gespielt? Es ist mein Ernst ... ich muss es wissen.“ Ach, verdammt. Ihr zitterte die Stimme, als würde sie gleich vor ihm in Tränen ausbrechen - vor diesem Fremden, der ihr die Freiheit gestohlen und ihre Privatsphäre verletzt hatte. Lieber wollte sie tot umfallen, als ihm gegenüber irgendeine Schwäche zu zeigen, egal, was sie gleich zu hören bekam. „Bitte. Sagen Sie's mir. Ich will die Wahrheit.“

„Über Sie selbst?“, fragte er, seine tiefe Stimme mit dem weichen Akzent rollte durch die Silben. „Oder über die andere Welt, für die Sie geboren wurden?“

Dylan konnte keine Worte finden. Es war ihr Instinkt, der sie ihre Hand zu der bestimmten Stelle in ihrem Nacken führen ließ. Dort schien es vor Hitze zu kribbeln.

Rio nickte nüchtern. „Es ist ein seltenes Muttermal. Von einer halben Million Menschenfrauen wird vielleicht eine damit geboren, wahrscheinlich sogar weniger. Frauen, die das Mal tragen - Frauen wie Sie, Dylan -, sind etwas sehr Besonderes. Es bedeutet, dass Sie eine Stammesgefährtin sind. Frauen Sie haben bestimmte ... Gaben.

Fähigkeiten, die sie von anderen Menschen unterscheiden.“

„Was für Gaben und Fähigkeiten?“, fragte sie und war sich dabei gar nicht sicher, ob sie dieses Gespräch überhaupt führen wollte.

„Übersinnliche Fähigkeiten in erster Linie. Jede ist anders, mit unterschiedlich gearteten Fähigkeiten. Manche können in die Zukunft oder die Vergangenheit sehen. Manche können einen Gegenstand in die Hand nehmen und seine Geschichte lesen. Andere können Stürme heraufbeschwören oder den Willen der Lebewesen lenken, die sie umgeben. Manche können durch bloße Berührung heilen. Manche durch bloße Gedanken töten.“

„Das ist doch lächerlich“, meinte sie verächtlich. „Solche Fähigkeiten gibt es nur in Schundblättern und Science-Fiction.“

Er stieß einen Grunzlaut aus, sein Mundwinkel hob sich. Er musterte sie unangenehm eindringlich, versuchte sie mit diesem topasfarbenen Blick zu durchdringen. „Ich bin sicher, dass auch Sie so eine besondere Fähigkeit besitzen. Was ist Ihre Gabe, Dylan Alexander?“

„Das ist doch wohl nicht Ihr Ernst.“ Sie schüttelte den Kopf und verdrehte genervt die Augen.

Und doch dachte sie dabei die ganze Zeit über die eine Sache nach, die sie schon immer von den anderen Menschen unterschieden hatte. Ihre unerklärliche Verbindung zu den Toten, über die sie mal verfügte, mal wieder nicht. Aber das war trotzdem etwas anderes als das, was er beschrieb. Etwas vollkommen anderes.

Oder ...?

„Sie müssen es mir nicht sagen“, sagte er. „Sie müssen nur wissen, dass es einen Grund dafür gibt, dass Sie anders sind als andere Frauen. Vielleicht haben Sie ja das Gefühl, dass Sie generell nicht in diese Welt passen. Viele Frauen wie Sie sind sensibler als der Rest der Menschen. Sie sehen die Dinge anders, fühlen sie anders. Für all das gibt es einen Grund, Dylan.“

Wie konnte er das wissen? Wie konnte er so viel von ihr verstehen?

Dylan wollte kein Wort von dem glauben, was er sagte. Sie wollte nicht glauben, dass sie ein Teil des Phänomens war, das er da beschrieb.

Und doch schien er sie so vollkommen zu verstehen, persönlicher zu kennen als irgendjemand sonst in ihrem Leben.

„Stammesgefährtinnen haben eine einzigartige Gabe“, sagte Rio, während sie ihn in ungläubigem Schweigen anstarrte. „Aber die einzigartigste Gabe, die jede einzelne von ihnen besitzt, ist die Fähigkeit, mit Angehörigen meiner Spezies Leben zu zeugen.“

Schon wieder. Schon wieder seine Spezies. Und was redete er da über Sex und Fortpflanzung?

Dylan starrte ihn an, und sofort stand ihr wieder das grelle Bild vor Augen, wie leicht es ihm gefallen war, sie in diesem Prager Hotel unter seinem mächtigen, so erregten Körper zu begraben. Sofort erinnerte sie sich wieder an die Hitze, die all diese Muskeln verströmt hatten, als sie sich an sie pressten. Aber warum bei diesem Gedanken ihr Herz schneller schlug, ihr Atem schwerer ging, wollte sie lieber nicht wissen.

Hatte er vor, diese Szene zu wiederholen? Oder dachte er womöglich im Ernst, dass sie so leichtgläubig war, ihm auch nur irgendwas von diesem Gewäsch abzukaufen - dass sie anders war als andere, dass sie zu einer mysteriösen anderen Welt gehörte, von der sie bis jetzt noch nie gehört hatte?

Und warum sollte sie ihm das glauben? Wegen diesem winzigen Muttermal in ihrem Nacken? Es fühlte sich an ihrer Handfläche immer noch irgendwie heiß und elektrisch an. Sie ließ die Hand sinken und schlang sich die Arme um den Oberkörper.

Rio verfolgte ihre Bewegungen mit einem aufmerksamen, scharfen Blick. „Ich denke, Sie werden bemerkt haben, dass auch ich nicht wie andere Männer bin. Auch dafür gibt es einen Grund.“

Eine schwere Stille legte sich über den Raum, er schien sich Zeit lassen zu wollen, die richtigen Worte zu wählen.

„Es ist deshalb, weil ich kein gewöhnlicher Mann bin. Ich bin mehr als das.“

Dylan musste zugeben, dass er mehr Mann war als jeder andere, den sie je getroffen hatte. Schon seine Größe und Kraft erhoben ihn in eine andere Klasse. Aber er war doch ganz Mann, das konnte sie sehen an der Art, wie er sie ansah, seine Augen heiß, als sie über ihr Gesicht und ihren Körper wanderten.

Er starrte sie an, ohne zu blinzeln, sein Blick von einer erhitzten Intensität. „Ich bin ein Angehöriger des Stammes, Dylan. In Ihrem Lexikon werde ich, mangels eines besseren Begriffs, als Vampir aufgeführt.“

Eine Schrecksekunde lang dachte sie, sie hätte ihn falsch verstanden. Dann wich schlagartig all die unbehagliche Spannung, die sie gespürt hatte, seit Rio im Raum war, einer riesigen Welle der Erleichterung.

„Oh mein Gott!“ Sie konnte das schallende Gelächter nicht zurückhalten. Es brach beinahe hysterisch aus ihr heraus, eine Flutwelle der Ungläubigkeit und der Belustigung spülte all ihre Ängstlichkeit schlagartig fort. „Ein Vampir. Wirklich? Wissen Sie, das ergibt einfach so viel mehr Sinn als alles, was ich mir über Sie gedacht habe. Kein Militär, kein Spion der Regierung, kein Terrorist, nein, ein Vampir!“

Er lachte nicht.

Nein, er stand einfach nur da, völlig bewegungslos. Sah sie an.

Wartete, bis sie aufschaute und in seine Augen sah. Sie lächelten nicht.

„Ach, kommen Sie schon“, schalt sie. „Sie glauben doch wohl nicht im Ernst, dass ich Ihnen das abkaufe.“

„Es ist mir klar, dass Sie damit Ihre Schwierigkeiten haben dürften.

Aber es ist die Wahrheit. Die wollten Sie doch hören, Dylan. Schon die ganze Zeit, seit wir beide uns zum ersten Mal sahen - die Wahrheit.

Jetzt haben Sie sie.“

Herr im Himmel, es schien ihm ja wirklich ernst damit. „Was ist mit den anderen Leuten, die hier leben? Und versuchen Sie bloß nicht, mir weiszumachen, dass in diesem riesigen Anwesen sonst niemand lebt, ich habe Leute auf den Gängen gehört, die sich gedämpft unterhalten haben. Also, was ist mit ihnen? Sind sie auch Vampire?“

„Einige“, sagte er ruhig. „Die Männer sind Stammesvampire. Die Frauen, die hier in diesem Dunklen Hafen leben, sind Menschen.

Stammesgefährtinnen ... wie Sie.“

Dylan zuckte innerlich zurück. „Hören Sie auf. Sagen Sie das nicht mehr. Hören Sie auf, so zu tun, als wäre ich Teil Ihrer Wahnvorstellungen. Sie wissen gar nichts über mich.“

„Ich weiß genug.“ Er legte den Kopf schief, eine Bewegung, die fast animalisch wirkte. „Das Mal, das Sie tragen, ist alles, was ich über Sie wissen muss, Dylan. Jetzt sind Sie ein Teil von alldem hier, gehören auf unleugbare Weise dazu. Das ist eine Tatsache, und ob sie Ihnen oder mir gefällt oder nicht, tut nichts zur Sache.“

„Nun, mir gefällt sie nicht“, stieß sie hervor. Jetzt wurde Sie wieder ängstlich. „Ich will, dass Sie mich aus diesem Zimmer rauslassen. Ich will zurück nach Hause, zu meiner Familie und meinem Job. Ich will alles vergessen über diese verdammte Höhle und über Sie.“

Er schüttelte langsam den dunklen Kopf. „Dazu ist es zu spät. Es gibt kein Zurück, Dylan. So leid es mir tut.“

„So, leid tut es Ihnen“, zischte sie. „Ich sage Ihnen mal was, Sie sind wahnsinnig! Sie sind krank in Ihrem verdammten Kopf...“

Mit einem geschmeidigen Beugen seiner Muskeln löste er sich von der Wand, und einen Sekundenbruchteil später stand er vor ihr. Nicht einmal zwei Zentimeter lagen zwischen ihnen. Er hob die Hand, als wollte er sie an der Wange berühren, seine Finger schwebten so nah über ihr und widerstanden doch.

Dylans Herz begann, wild in ihrer Brust zu hämmern, aber sie rührte sich nicht, wich nicht zurück. Sie konnte nicht - nicht, wenn er sie mit diesem glühenden, fast hypnotischen topasfarbenen Blick gebannt hielt.

Atmete sie noch? Sie wusste es nicht mehr. Sie warte darauf, seine Berührung leicht auf ihrer Haut zu spüren, und erkannte verblüfft, wie sehr sie es wollte. Aber da ließ er mit einem langsamen Knurren die Hand sinken.

Er beugte seinen Kopf nahe an ihr Ohr, seine tiefe Stimme ein heiseres Flüstern an ihrem Hals. „Essen Sie Ihr Sandwich, Dylan. Es wäre eine Schande, gutes Essen verkommen zu lassen, wenn Sie wissen, dass Sie Nahrung brauchen.“

 

Nun, seine Erklärungen hatte sie geschluckt wie ein Bündel Rasierklingen.

Rio schloss ihre Tür ab und stürmte in sein angrenzendes Gästezimmer, die Hände zu Fäusten geballt. Es hatte eine Zeit gegeben, da hätte er eine solche Aufgabe mit Charme und Diplomatie gelöst. Das konnte er sich jetzt fast nicht mehr vorstellen. Er war schonungslos und erfolglos gewesen, und das ließ sich nicht alles auf die Spätfolgen seiner Schädelverletzung schieben oder den Hunger, der in ihm fraß und nagte wie ein Rudel Wölfe an einem Stück Aas.

Er wusste nicht, wie er mit Dylan Alexander umgehen sollte.

Er wusste nicht, was er von ihr halten sollte oder was von seiner eigenen ungewollten Reaktion auf sie zu halten war.

Seit Eva hatte es keine andere Frau gegeben, die sein Interesse geweckt hätte, wenn man mal von der Ebene der absolut elementarsten körperlichen Bedürfnisse absah. Sobald er wieder so weit zu Kräften gekommen war, dass er das Hauptquartier verlassen konnte - das hatte Wochen gedauert-, hatte Rio seine sexuellen Bedürfnisse auf dieselbe Art gestillt wie seinen Hunger nach Blut. Mit kalter, unpersönlicher Effizienz. Das kam ihm so seltsam vor, ihm, einem Mann, der den vielen Genüssen des Lebens früher immer ohne Reue gefrönt hatte als einem wesentlichen Bestandteil des Lebens selbst.

Aber er war nicht immer so gewesen. Es hatte ihn viele Jahre gekostet, sich über die dunklen Ursprünge seiner Geburt zu erheben und etwas Sinnvolles zu tun, etwas Gutes aus seinem Leben zu machen. Er hatte gedacht, dass ihm das gelungen war. Zur Hölle noch mal, er hatte wirklich gedacht, dass er alles im Leben erreicht hatte.

Und alles verschwand in einem einzigen Augenblick - einem blendenden, weiß glühenden Augenblick vor einem Sommer, als Eva den Orden an den Feind verraten hatte.

Rio hatte lange gedacht, dass der Verrat seiner Gefährtin ihn für immer unfähig gemacht hätte, eine neue Beziehung einzugehen. Ein Teil von ihm war sogar froh, die emotionalen Verwicklungen und die Komplikationen, die Beziehungen immer mit sich brachten, endlich hinter sich gelassen zu haben.

Aber nun war plötzlich Dylan aufgetaucht.

Und sie war im Nebenzimmer und hielt ihn für einen Wahnsinnigen.

Womit sie der Sache zugegebenermaßen recht nahe kam, wie er grimmig bemerkte. Was würde sie denken, wenn sie erst erkannte, dass alles, was er ihr eben erzählt hatte, die Wahrheit war?

Es war egal.

Bald schon würde sie alles wissen. Man würde sie vor Entscheidung stellen, und sie würde wählen müssen, welche Richtung ihr weiteres Leben nehmen sollte: ob sie im Schutz der Dunklen Häfen leben oder in ihr altes Leben zurückkehren wollte, zu den Menschen.

Er hatte nicht vor, so lange in ihrer Nähe zu bleiben, um herauszufinden, für welche Option sie sich entschied. Er hatte seinen eigenen Weg zu gehen. All dies war nur ein frustrierender Umweg für ihn.

Ein Klopfen an der geschlossenen Tür seines Gästezimmers riss Rio aus seinen düsteren Gedanken.

„Ja“, bellte er, immer noch wütend auf sich selbst. Die Tür öffnete sich, und Reichen trat ein.

„Wie ist es gelaufen?“, fragte der Mann aus dem Dunklen Hafen.

„Zum Kotzen“, knurrte Rio scharf. „Was gibt's?“

„Ich gehe heute Abend in die Stadt und dachte, vielleicht möchten Sie mich begleiten.“ Er warf einen vielsagenden Blick auf Rios Dermaglyphen, deren Farben sich weiter vertieft hatten. „Das Etablissement ist dekadent, aber sehr diskret. Genau wie die Frauen, die dort arbeiten. Gönnen Sie sich ein Stündchen mit einem von Helenes Engeln, und ich garantiere Ihnen, dass Sie all Ihre Sorgen vergessen werden.“

Rio stieß einen Grunzlaut aus. „Bin dabei.“

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